Gestörtes Essverhalten in der Überflussgesellschaft
Untergewichtige Models definieren das aktuelle Schönheitsideal - und
viele junge Frauen eifern ihnen nach. Anderseits leiden bereits
Jugendliche an Übergewicht. Die Zürcher Psychiaterin Barbara
Buddeberg-Fischer hat in einem Gespräch mit NZZ-Mitarbeiter Alan
Niederer erklärt, wie es zu gestörtem Essverhalten und Essstörungen im
engeren Sinn kommt, was dagegen getan werden kann und weshalb es
sinnvoll ist, mit der Prävention bereits im Kindergarten zu beginnen.
Sie sehen täglich Menschen mit Essstörungen. Wie erkennen Sie ein
abnormes Essverhalten?
Ich kann das nicht losgelöst von der Person entscheiden. Ein gestörtes
Essverhalten ist schliesslich keine absolute Grösse. Im Zentrum stehen
Fragen wie: Isst jemand regelmässig und über den Tag verteilt? Oder
fastet eine Person tagelang und hat dann einen unbändigen
Nachholbedarf? Hat diese Person wiederholte Ess-Attacken, bei denen
sie in kürzester Zeit grosse Mengen an Essen verschlingt? Diese
Attacken können zudem von Reinigungsritualen gefolgt sein, um durch
Erbrechen oder abführende Medikamente eine Gewichtszunahme zu
verhindern.
Wo ziehen Sie die Grenze zwischen einem normalen und einem krankhaften
Essverhalten?
Die Übergänge sind fliessend. Es gibt jedoch klare Kriterien für ein
gestörtes Essverhalten (siehe Kasten). Wenn etwa die notwendige
Kalorienzahl über eine längere Zeit unterschritten wird oder jemand
konstant zu viele Kalorien zu sich nimmt, ohne sich entsprechend
körperlich zu betätigen. Eine wichtige Rolle spielt auch die
Persönlichkeit. Denn gestörtes Essverhalten und Essstörungen im
engeren Sinn sind oft mit anderen psychischen Störungen wie
Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen sowie
Persönlichkeitsstörungen kombiniert.
Warum sind Essstörungen in unserem Kulturraum so häufig?
Essstörungen kommen praktisch nur in hoch industrialisierten
Gesellschaften vor. Denn die Verweigerung des Essens als Signal hat
nur einen Sinn, wenn genügend Nahrung vorhanden ist. Andererseits
können auch Ess-Attacken nur in einer Überflussgesellschaft zelebriert
Vorwiegend junge Frauen
Wie kommt es, dass vorwiegend junge Frauen Essstörungen entwickeln?
Verschiedene Aspekte spielen eine Rolle. Wichtig scheint mir die
Diskrepanz zwischen der physiologischen Entwicklung des weiblichen
Körpers, die an gewissen Stellen Rundungen vorsieht, und dem aktuellen
Schönheitsideal mit mehrheitlich untergewichtigen bis magersüchtigen
Models. Durch diese Diskrepanz geraten viele junge Frauen unter Druck.
Sie fragen sich, weshalb sie eine Körperform akzeptieren sollen, die
dem heute gültigen Schönheitsideal entgegengesetzt ist. Die
körperlichen Veränderungen der Pubertät sind bei den meisten Mädchen
in unserem Kulturraum bereits mit zwölf Jahren, mit der ersten
Regelblutung, abgeschlossen. Das Durchschnittsalter einer Frau bei der
Geburt des ersten Kindes beträgt jedoch 28 bis 30 Jahre. Das bedeutet,
dass sich junge Frauen während sechzehn Jahren mit Körperformen
auseinandersetzen müssen, deren Sinn sie lange Zeit nicht einsehen.
Ganz anders sieht es bei den jungen Männern aus, deren physiologische
Entwicklung mit dem Schönheitsideal des sportlich-athletischen Mannes
einhergeht. Denn die männlichen Geschlechtshormone bewirken eine
Verbreiterung der Schultern und erhöhen die Muskelkraft.
Gibt es nebst den körperlichen Unterschieden auch einen
gesellschaftlichen Druck, unter dem Frauen stärker leiden als Männer?
Es ist sicher so, dass für Frauen höhere Anforderungen gelten: Sie
sollen schön sein und eine gute Figur haben, zudem müssen sie
intelligent und gut ausgebildet sein. Aber das genügt noch nicht. Von
Frauen wird auch erwartet, dass sie emotional und beziehungsorientiert
sind. All diese Anforderungen unter einen Hut zu bringen, überfordert
viele junge Frauen. Ein männlicher Jugendlicher hingegen darf
egoistisch und gelegentlich aggressiv sein. Ihm wird auch eher
verziehen, wenn er körperlich aus der Form gerät.
Das gängige Schönheitsideal wird in hohem Mass durch die
allgegenwärtige Werbung diktiert. Ist es nicht schon fast normal, dass
ein sensibles Mädchen an diesen Anforderungen zerbricht? Oder anders
gefragt: Was braucht es, um heil durch Pubertät und Adoleszenz zu
kommen?
Es geht um die Bewältigungsmöglichkeiten der jungen Frau. Dabei
spielen individuelle Faktoren wie die eigene Vulnerabilität eine
Rolle, eine gewisse genetische Veranlagung, das Selbstwertgefühl, aber
auch die soziale Unterstützung durch Familie und Freunde. Das sind
wichtige Ressourcen, die es dem Jugendlichen ermöglichen, den Schritt
vom Kind zum Erwachsenen zu vollziehen. Damit es tatsächlich zu einer
Essstörung kommt, müssen verschiedene Faktoren zusammenkommen: z. B.
schlecht funktionierende familiäre Beziehungen, eine familiäre
Belastung mit psychischen Störungen oder auch Schwierigkeiten in der
Schule oder der Berufsausbildung.
Können Sie eine typische Familie skizzieren?
Typische Familien gibt es nicht. Die Essstörungen als Krankheitsbilder
haben sich in den letzten dreissig Jahren verändert. Früher waren es
oft Jugendliche aus sogenannt gutem Hause. Das hat sich geändert.
Heute findet man Essstörungen in allen sozialen und Bildungsschichten.
Es trifft aber zu, dass Frauen, die eine Magersucht entwickeln,
gewisse Persönlichkeitsmerkmale aufweisen wie z. B. ein ausgeprägtes
Autonomiestreben, Zwanghaftigkeit, Leistungsbereitschaft und Ehrgeiz.
Bulimie-Patientinnen hingegen sind eher depressiv veranlagt und haben
neben der Bulimie nicht selten noch andere Abhängigkeitsstörungen.
Essstörungen kommen gehäuft in Familien vor, in denen die
innerfamiliären Grenzen nicht eingehalten werden oder in denen zu
wenig offen kommuniziert wird. Diese Familien funktionieren
vordergründig, doch gibt es keine Streitkultur - Konflikte werden also
nicht offen und im Gespräch ausgetragen. Gelegentlich braucht es
deshalb ein deutliches Signal - etwa eine Anorexie.
Essstörung als Signal
Sie bezeichnen die Essstörung als Signal. Da kommt mir der
Hungerstreik für politische Ziele in den Sinn. In diesem Zusammenhang
wird oft von der Macht des Hungernden gesprochen. Hat eine junge Frau
mit einer Essstörung Macht?
Ich denke schon. Es sind oft relativ starke Persönlichkeiten, die
hungern. Deshalb wählen sie auch ein starkes Signal. Über die
Verweigerung des Essens üben sie Macht auf ihre Familie aus. Das ist
eine enorme Bedrohung. Die Eltern werden gezwungen, sich mit ihrer
Tochter und sich selbst auseinanderzusetzen.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Essstörungen und neuzeitlichen
Ernährungsformen wie Fastfood?
Der Verlust des Essens als soziales Phänomen ist sicher ein wichtiger
Faktor. Tischgemeinschaften werden immer seltener eingehalten. Damit
geht die Gemeinsamkeit beim Essen verloren. Beim Essen begegnet man
sich, tauscht Gedanken aus. Durch Fastfood wird zudem zu viel Fett
gegessen, womit dem Übergewicht Vorschub geleistet wird. Das trifft
besonders auf weibliche Jugendliche zu, die wegen der
Geschlechtshormone mehr Fett einlagern und deshalb schneller dick
werden. Sie sind dann unglücklich und beginnen mit Diäten. Das stört
auf lange Frist die Funktion des Sättigungs- und Hungerzentrums. Und
damit beginnt der Teufelskreis.
Essstörungen und Übergewicht werden in der Medizin strikt getrennt.
Ist die Adipositas denn keine Essstörung?
Von der medizinischen Nomenklatur her nicht. Von den sozialen
Auswirkungen her würde ich aber das Übergewicht wie das ständige
Diäthalten zu den gestörten Essverhalten zählen. In der Medizin hat
die Adipositas erst dann einen Krankheitswert, wenn sie sehr
ausgeprägt ist und zu Sekundärerkrankungen führt.
Anorexie ist gefährlich
Die Anorexie ist gefährlich. Trotz guten Behandlungsmöglichkeit
sterben heute immer noch rund zehn Prozent der Magersüchtigen an ihrer
Krankheit. Das Ausmass des Untergewichtes kann so gravierend sein,
dass es zu einem Stillstand des Herz-Kreislauf-Systems kommt. Bei der
Bulimie gibt es weniger tödliche Folgen. Durch das ständige Erbrechen
kann es aber zu Blutungen in der Speiseröhre oder im Magen kommen
sowie zu Herzrhythmusstörungen wegen Elektrolytverschiebungen. Oft
verursacht die Magensäure auch Schäden am Zahnschmelz.
Übergewichtige werden häufig von ihren Hausärzten behandelt,
Patientinnen mit Essstörungen gehen zum Psychiater. Weshalb dieser
Unterschied?
Auch Essstörungen werden oft zuerst vom Hausarzt bemerkt. Für
leichtere Fälle ist das sicher ein guter Zugang. Doch es ist wichtig,
den richtigen Zeitpunkt für eine Überweisung an den Spezialisten zu
erkennen. Heute gibt es eine Reihe von ambulanten oder stationären
Behandlungsmöglichkeiten, die speziell auf Essstörungen zugeschnitten
sind.
Die Behandlung der Adipositas erfolgt nach einem Stufenplan:
Essgewohnheit umstellen und vermehrte körperliche Aktivität, eventuell
eine zusätzliche psychologische Betreuung. Reicht das nicht aus,
kommen Medikamente, allenfalls eine Operation zum Zug. Wie sieht die
Behandlung von Essstörungen aus?
Auch hier arbeiten wir mit einem Stufenplan. Der Hausarzt wägt und
misst die Patientin und gibt Ratschläge. Ändert sich dadurch nichts,
ist oft eine ambulante psychiatrische Behandlung sinnvoll. Heute
werden Essstörungen zunächst meist mit einem kognitiv-behavioralen
Ansatz behandelt - dazu gehören z. B. das Esstagebuch, die
Rhythmisierung der Mahlzeiten, die Analyse, wann Essanfälle auftreten,
und das Erlernen von alternativen Bewältigungsmustern. In einem
nächsten Schritt werden tiefer liegende Konflikte angegangen. Ein
weiterer Ansatz ist die Körpertherapie. Sie soll der Patientin zu
einer besseren Körperwahrnehmung verhelfen. Je nach Schweregrad der
Essstörung oder wenn zusätzlich eine ausgeprägte
Persönlichkeitsstörung oder andere psychische Störungen vorliegen,
kann auch eine stationäre Behandlung angezeigt sein.
Werden Magersüchtige auch zwangsernährt?
Wann immer möglich wird heute davon abgesehen. Man gibt den
Patientinnen aber hochkalorische Getränke.
Wie sind die Erfolgschancen einer Behandlung?
Das hängt von vielen Faktoren ab. Zum Beispiel ist das Alter der
Patientin wichtig: Wenn ein Mädchen bereits vor der Pubertät eine
Essstörung entwickelt, ist das sehr ungünstig. Auch darf zwischen dem
Anfang der Krankheit und dem Beginn einer Therapie nicht zu viel Zeit
verstreichen. Man geht heute davon aus, dass rund die Hälfte aller
Patientinnen mit einer Essstörung geheilt werden kann. Allerdings
haben viele von ihnen auch später noch ein zumindest leicht gestörtes
Essverhalten.
Frühzeitige Prävention
Weil die Behandlung so schwierig ist, wird heute vermehrt versucht,
präventiv auf die Jugendlichen zu wirken. Wie funktioniert das?
Heute steht nicht mehr die punktuelle Prävention im Vordergrund,
sondern eine Prävention im Längsverlauf. Für Essstörungen heisst das,
dass man bereits im Kindergartenalter beginnt, über Themen wie
Körperbild, gesunde Ernährung und das Essen als soziales Phänomen zu
sprechen. Nach dem Motto: Essen als Lust und nicht essen aus Frust.
Essen ist also kein Tröster, auch sollte Liebe nicht vor allem durch
den Magen gehen. Es wird immer wieder die Frage gestellt, ob Kinder
den Teller leer essen müssen oder nicht. Kleinkinder essen zu Beginn
einer Mahlzeit sehr rasch und beginnen dann plötzlich, mit dem Essen
zu spielen. Das ist ein Signal an die Eltern: Jetzt bin ich satt.
Mädchen durchlaufen mit sieben bis acht Jahren die ersten körperlichen
Veränderungen der Pubertät. Es ist wichtig, dass man sie auf diesen
Wandel vorbereitet, nur so finden sie zu einem guten Körperbild und
können akzeptieren, was mit ihnen passiert. Untersuchungen zeigen,
dass ein normales Gewicht in der Kindheit und ein gutes Körperbild
wichtige Faktoren sind, damit sich später keine Essstörungen
ausbilden.
Und diese Prävention wird heute bereits im Kindergarten und in der
Schule gemacht?
Ja, zunehmend. Es gibt viele Lehrerinnen und Lehrer, die an diesem
Thema interessiert sind. Zudem fliessen präventive Aspekte in die
Ausbildung der Lehrkräfte ein.
Vor wenigen Jahren haben Sie an Zürcher Schulen wissenschaftlich
untersucht, ob sich ein gestörtes Essverhalten mit einer präventiven
Intervention vermeiden oder korrigieren lässt. Was sind Ihre
Erkenntnisse?
Wir haben diese Studie mit knapp zweitausend Oberstufenschülern
durchgeführt. Wir haben die Jugendlichen gewogen und gemessen und mit
Fragebögen zu ihrem Essverhalten, dem Gewicht in der Kindheit, dem
Körperbild, den Familienmahlzeiten, den Freundschaften sowie nach
psychischen und psychosomatischen Beschwerden befragt. In zehn Klassen
mit gehäuft auffälligem Essverhalten haben wir dann drei
Präventionslektionen durchgeführt. Unsere Arbeit hat gezeigt, dass
Präventionsarbeit bei Schülern und Lehrern die Sensibilität für
gestörtes Essverhalten und Essstörungen erhöhen kann. Einige haben
zudem ihr Essverhalten umgestellt, andere haben sich für eine Therapie
interessiert.
Wird das Projekt weitergehen?
Ja, daraus haben sich Weiterbildungsveranstaltungen für Lehrpersonen
und Projektgruppen entwickelt, die sich mit Aspekten der
Gesundheitsförderung befassen. Essstörungen werden zudem im Rahmen der
Suchtpräventionsveranstaltungen in den Schulen besprochen. Das
Erkennen einer Essstörung und die rasche Vermittlung einer geeigneten
Therapie sind dadurch in den letzten Jahren effizienter geworden.
Stellen Sie sich vor, vor Ihnen sitzen Eltern, die sich Sorgen um ihre
Tochter machen. Was sind Ihre wichtigsten Tipps zur Vermeidung einer
Essstörung?
Das Wichtigste ist, dem Kind zu vermitteln, die Konstitution seines
Körpers zu akzeptieren. Es gibt nun einmal unterschiedliche
Körperbautypen. Zweitens sollte auf Signale wie Hunger- und
Sättigungsgefühle geachtet werden. Drittens muss die Ernährung
ausgeglichen und regelmässig sein, und das Kind sollte sich
ausreichend körperlich bewegen. Und schliesslich sollte innerhalb der
Familie eine Kommunikations- und Konfliktkultur gepflegt werden, die
es erlaubt, über Probleme zu sprechen. Dann braucht es das Essen nicht
mehr, um zu bestrafen oder zu belohnen.
Barbara Buddeberg-Fischer ist Psychiaterin und Psychotherapeutin für
Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Zürich und hat sich 1998 mit
einer Arbeit über Störungen des Essverhaltens bei Jugendlichen
habilitiert. Sie ist Autorin der Bücher «Früherkennung und Prävention
von Essstörungen» und «Auf dem Weg zu einer gesundheitsfördernden
Schule».