Neue Zürcher Zeitung Dienstag, 26. Juni 2001

Die Verweigerung des Essens als Signal

Gestörtes Essverhalten in der Überflussgesellschaft

Untergewichtige Models definieren das aktuelle Schönheitsideal - und viele junge Frauen eifern ihnen nach. Anderseits leiden bereits Jugendliche an Übergewicht. Die Zürcher Psychiaterin Barbara Buddeberg-Fischer hat in einem Gespräch mit NZZ-Mitarbeiter Alan Niederer erklärt, wie es zu gestörtem Essverhalten und Essstörungen im engeren Sinn kommt, was dagegen getan werden kann und weshalb es sinnvoll ist, mit der Prävention bereits im Kindergarten zu beginnen.

Sie sehen täglich Menschen mit Essstörungen. Wie erkennen Sie ein abnormes Essverhalten?

Ich kann das nicht losgelöst von der Person entscheiden. Ein gestörtes Essverhalten ist schliesslich keine absolute Grösse. Im Zentrum stehen Fragen wie: Isst jemand regelmässig und über den Tag verteilt? Oder fastet eine Person tagelang und hat dann einen unbändigen Nachholbedarf? Hat diese Person wiederholte Ess-Attacken, bei denen sie in kürzester Zeit grosse Mengen an Essen verschlingt? Diese Attacken können zudem von Reinigungsritualen gefolgt sein, um durch Erbrechen oder abführende Medikamente eine Gewichtszunahme zu verhindern.

Wo ziehen Sie die Grenze zwischen einem normalen und einem krankhaften Essverhalten?

Die Übergänge sind fliessend. Es gibt jedoch klare Kriterien für ein gestörtes Essverhalten (siehe Kasten). Wenn etwa die notwendige Kalorienzahl über eine längere Zeit unterschritten wird oder jemand konstant zu viele Kalorien zu sich nimmt, ohne sich entsprechend körperlich zu betätigen. Eine wichtige Rolle spielt auch die Persönlichkeit. Denn gestörtes Essverhalten und Essstörungen im engeren Sinn sind oft mit anderen psychischen Störungen wie Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen sowie Persönlichkeitsstörungen kombiniert.

Warum sind Essstörungen in unserem Kulturraum so häufig?

Essstörungen kommen praktisch nur in hoch industrialisierten Gesellschaften vor. Denn die Verweigerung des Essens als Signal hat nur einen Sinn, wenn genügend Nahrung vorhanden ist. Andererseits können auch Ess-Attacken nur in einer Überflussgesellschaft zelebriert

Vorwiegend junge Frauen

Wie kommt es, dass vorwiegend junge Frauen Essstörungen entwickeln?

Verschiedene Aspekte spielen eine Rolle. Wichtig scheint mir die Diskrepanz zwischen der physiologischen Entwicklung des weiblichen Körpers, die an gewissen Stellen Rundungen vorsieht, und dem aktuellen Schönheitsideal mit mehrheitlich untergewichtigen bis magersüchtigen Models. Durch diese Diskrepanz geraten viele junge Frauen unter Druck. Sie fragen sich, weshalb sie eine Körperform akzeptieren sollen, die dem heute gültigen Schönheitsideal entgegengesetzt ist. Die körperlichen Veränderungen der Pubertät sind bei den meisten Mädchen in unserem Kulturraum bereits mit zwölf Jahren, mit der ersten Regelblutung, abgeschlossen. Das Durchschnittsalter einer Frau bei der Geburt des ersten Kindes beträgt jedoch 28 bis 30 Jahre. Das bedeutet, dass sich junge Frauen während sechzehn Jahren mit Körperformen auseinandersetzen müssen, deren Sinn sie lange Zeit nicht einsehen. Ganz anders sieht es bei den jungen Männern aus, deren physiologische Entwicklung mit dem Schönheitsideal des sportlich-athletischen Mannes einhergeht. Denn die männlichen Geschlechtshormone bewirken eine Verbreiterung der Schultern und erhöhen die Muskelkraft.

Gibt es nebst den körperlichen Unterschieden auch einen gesellschaftlichen Druck, unter dem Frauen stärker leiden als Männer?

Es ist sicher so, dass für Frauen höhere Anforderungen gelten: Sie sollen schön sein und eine gute Figur haben, zudem müssen sie intelligent und gut ausgebildet sein. Aber das genügt noch nicht. Von Frauen wird auch erwartet, dass sie emotional und beziehungsorientiert sind. All diese Anforderungen unter einen Hut zu bringen, überfordert viele junge Frauen. Ein männlicher Jugendlicher hingegen darf egoistisch und gelegentlich aggressiv sein. Ihm wird auch eher verziehen, wenn er körperlich aus der Form gerät.

Das gängige Schönheitsideal wird in hohem Mass durch die allgegenwärtige Werbung diktiert. Ist es nicht schon fast normal, dass ein sensibles Mädchen an diesen Anforderungen zerbricht? Oder anders gefragt: Was braucht es, um heil durch Pubertät und Adoleszenz zu kommen?

Es geht um die Bewältigungsmöglichkeiten der jungen Frau. Dabei spielen individuelle Faktoren wie die eigene Vulnerabilität eine Rolle, eine gewisse genetische Veranlagung, das Selbstwertgefühl, aber auch die soziale Unterstützung durch Familie und Freunde. Das sind wichtige Ressourcen, die es dem Jugendlichen ermöglichen, den Schritt vom Kind zum Erwachsenen zu vollziehen. Damit es tatsächlich zu einer Essstörung kommt, müssen verschiedene Faktoren zusammenkommen: z. B. schlecht funktionierende familiäre Beziehungen, eine familiäre Belastung mit psychischen Störungen oder auch Schwierigkeiten in der Schule oder der Berufsausbildung.

Können Sie eine typische Familie skizzieren?

Typische Familien gibt es nicht. Die Essstörungen als Krankheitsbilder haben sich in den letzten dreissig Jahren verändert. Früher waren es oft Jugendliche aus sogenannt gutem Hause. Das hat sich geändert. Heute findet man Essstörungen in allen sozialen und Bildungsschichten. Es trifft aber zu, dass Frauen, die eine Magersucht entwickeln, gewisse Persönlichkeitsmerkmale aufweisen wie z. B. ein ausgeprägtes Autonomiestreben, Zwanghaftigkeit, Leistungsbereitschaft und Ehrgeiz. Bulimie-Patientinnen hingegen sind eher depressiv veranlagt und haben neben der Bulimie nicht selten noch andere Abhängigkeitsstörungen. Essstörungen kommen gehäuft in Familien vor, in denen die innerfamiliären Grenzen nicht eingehalten werden oder in denen zu wenig offen kommuniziert wird. Diese Familien funktionieren vordergründig, doch gibt es keine Streitkultur - Konflikte werden also nicht offen und im Gespräch ausgetragen. Gelegentlich braucht es deshalb ein deutliches Signal - etwa eine Anorexie.

Essstörung als Signal

Sie bezeichnen die Essstörung als Signal. Da kommt mir der Hungerstreik für politische Ziele in den Sinn. In diesem Zusammenhang wird oft von der Macht des Hungernden gesprochen. Hat eine junge Frau mit einer Essstörung Macht?

Ich denke schon. Es sind oft relativ starke Persönlichkeiten, die hungern. Deshalb wählen sie auch ein starkes Signal. Über die Verweigerung des Essens üben sie Macht auf ihre Familie aus. Das ist eine enorme Bedrohung. Die Eltern werden gezwungen, sich mit ihrer Tochter und sich selbst auseinanderzusetzen.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Essstörungen und neuzeitlichen Ernährungsformen wie Fastfood?

Der Verlust des Essens als soziales Phänomen ist sicher ein wichtiger Faktor. Tischgemeinschaften werden immer seltener eingehalten. Damit geht die Gemeinsamkeit beim Essen verloren. Beim Essen begegnet man sich, tauscht Gedanken aus. Durch Fastfood wird zudem zu viel Fett gegessen, womit dem Übergewicht Vorschub geleistet wird. Das trifft besonders auf weibliche Jugendliche zu, die wegen der Geschlechtshormone mehr Fett einlagern und deshalb schneller dick werden. Sie sind dann unglücklich und beginnen mit Diäten. Das stört auf lange Frist die Funktion des Sättigungs- und Hungerzentrums. Und damit beginnt der Teufelskreis.

Essstörungen und Übergewicht werden in der Medizin strikt getrennt. Ist die Adipositas denn keine Essstörung?

Von der medizinischen Nomenklatur her nicht. Von den sozialen Auswirkungen her würde ich aber das Übergewicht wie das ständige Diäthalten zu den gestörten Essverhalten zählen. In der Medizin hat die Adipositas erst dann einen Krankheitswert, wenn sie sehr ausgeprägt ist und zu Sekundärerkrankungen führt.

Anorexie ist gefährlich

Die Anorexie ist gefährlich. Trotz guten Behandlungsmöglichkeit sterben heute immer noch rund zehn Prozent der Magersüchtigen an ihrer Krankheit. Das Ausmass des Untergewichtes kann so gravierend sein, dass es zu einem Stillstand des Herz-Kreislauf-Systems kommt. Bei der Bulimie gibt es weniger tödliche Folgen. Durch das ständige Erbrechen kann es aber zu Blutungen in der Speiseröhre oder im Magen kommen sowie zu Herzrhythmusstörungen wegen Elektrolytverschiebungen. Oft verursacht die Magensäure auch Schäden am Zahnschmelz.

Übergewichtige werden häufig von ihren Hausärzten behandelt, Patientinnen mit Essstörungen gehen zum Psychiater. Weshalb dieser Unterschied?

Auch Essstörungen werden oft zuerst vom Hausarzt bemerkt. Für leichtere Fälle ist das sicher ein guter Zugang. Doch es ist wichtig, den richtigen Zeitpunkt für eine Überweisung an den Spezialisten zu erkennen. Heute gibt es eine Reihe von ambulanten oder stationären Behandlungsmöglichkeiten, die speziell auf Essstörungen zugeschnitten sind.

Die Behandlung der Adipositas erfolgt nach einem Stufenplan: Essgewohnheit umstellen und vermehrte körperliche Aktivität, eventuell eine zusätzliche psychologische Betreuung. Reicht das nicht aus, kommen Medikamente, allenfalls eine Operation zum Zug. Wie sieht die Behandlung von Essstörungen aus?

Auch hier arbeiten wir mit einem Stufenplan. Der Hausarzt wägt und misst die Patientin und gibt Ratschläge. Ändert sich dadurch nichts, ist oft eine ambulante psychiatrische Behandlung sinnvoll. Heute werden Essstörungen zunächst meist mit einem kognitiv-behavioralen Ansatz behandelt - dazu gehören z. B. das Esstagebuch, die Rhythmisierung der Mahlzeiten, die Analyse, wann Essanfälle auftreten, und das Erlernen von alternativen Bewältigungsmustern. In einem nächsten Schritt werden tiefer liegende Konflikte angegangen. Ein weiterer Ansatz ist die Körpertherapie. Sie soll der Patientin zu einer besseren Körperwahrnehmung verhelfen. Je nach Schweregrad der Essstörung oder wenn zusätzlich eine ausgeprägte Persönlichkeitsstörung oder andere psychische Störungen vorliegen, kann auch eine stationäre Behandlung angezeigt sein.

Werden Magersüchtige auch zwangsernährt?

Wann immer möglich wird heute davon abgesehen. Man gibt den Patientinnen aber hochkalorische Getränke.

Wie sind die Erfolgschancen einer Behandlung?

Das hängt von vielen Faktoren ab. Zum Beispiel ist das Alter der Patientin wichtig: Wenn ein Mädchen bereits vor der Pubertät eine Essstörung entwickelt, ist das sehr ungünstig. Auch darf zwischen dem Anfang der Krankheit und dem Beginn einer Therapie nicht zu viel Zeit verstreichen. Man geht heute davon aus, dass rund die Hälfte aller Patientinnen mit einer Essstörung geheilt werden kann. Allerdings haben viele von ihnen auch später noch ein zumindest leicht gestörtes Essverhalten.

Frühzeitige Prävention

Weil die Behandlung so schwierig ist, wird heute vermehrt versucht, präventiv auf die Jugendlichen zu wirken. Wie funktioniert das?

Heute steht nicht mehr die punktuelle Prävention im Vordergrund, sondern eine Prävention im Längsverlauf. Für Essstörungen heisst das, dass man bereits im Kindergartenalter beginnt, über Themen wie Körperbild, gesunde Ernährung und das Essen als soziales Phänomen zu sprechen. Nach dem Motto: Essen als Lust und nicht essen aus Frust. Essen ist also kein Tröster, auch sollte Liebe nicht vor allem durch den Magen gehen. Es wird immer wieder die Frage gestellt, ob Kinder den Teller leer essen müssen oder nicht. Kleinkinder essen zu Beginn einer Mahlzeit sehr rasch und beginnen dann plötzlich, mit dem Essen zu spielen. Das ist ein Signal an die Eltern: Jetzt bin ich satt. Mädchen durchlaufen mit sieben bis acht Jahren die ersten körperlichen Veränderungen der Pubertät. Es ist wichtig, dass man sie auf diesen Wandel vorbereitet, nur so finden sie zu einem guten Körperbild und können akzeptieren, was mit ihnen passiert. Untersuchungen zeigen, dass ein normales Gewicht in der Kindheit und ein gutes Körperbild wichtige Faktoren sind, damit sich später keine Essstörungen ausbilden.

Und diese Prävention wird heute bereits im Kindergarten und in der Schule gemacht?

Ja, zunehmend. Es gibt viele Lehrerinnen und Lehrer, die an diesem Thema interessiert sind. Zudem fliessen präventive Aspekte in die Ausbildung der Lehrkräfte ein.

Vor wenigen Jahren haben Sie an Zürcher Schulen wissenschaftlich untersucht, ob sich ein gestörtes Essverhalten mit einer präventiven Intervention vermeiden oder korrigieren lässt. Was sind Ihre Erkenntnisse?

Wir haben diese Studie mit knapp zweitausend Oberstufenschülern durchgeführt. Wir haben die Jugendlichen gewogen und gemessen und mit Fragebögen zu ihrem Essverhalten, dem Gewicht in der Kindheit, dem Körperbild, den Familienmahlzeiten, den Freundschaften sowie nach psychischen und psychosomatischen Beschwerden befragt. In zehn Klassen mit gehäuft auffälligem Essverhalten haben wir dann drei Präventionslektionen durchgeführt. Unsere Arbeit hat gezeigt, dass Präventionsarbeit bei Schülern und Lehrern die Sensibilität für gestörtes Essverhalten und Essstörungen erhöhen kann. Einige haben zudem ihr Essverhalten umgestellt, andere haben sich für eine Therapie interessiert.

Wird das Projekt weitergehen?

Ja, daraus haben sich Weiterbildungsveranstaltungen für Lehrpersonen und Projektgruppen entwickelt, die sich mit Aspekten der Gesundheitsförderung befassen. Essstörungen werden zudem im Rahmen der Suchtpräventionsveranstaltungen in den Schulen besprochen. Das Erkennen einer Essstörung und die rasche Vermittlung einer geeigneten Therapie sind dadurch in den letzten Jahren effizienter geworden.

Stellen Sie sich vor, vor Ihnen sitzen Eltern, die sich Sorgen um ihre Tochter machen. Was sind Ihre wichtigsten Tipps zur Vermeidung einer Essstörung?

Das Wichtigste ist, dem Kind zu vermitteln, die Konstitution seines Körpers zu akzeptieren. Es gibt nun einmal unterschiedliche Körperbautypen. Zweitens sollte auf Signale wie Hunger- und Sättigungsgefühle geachtet werden. Drittens muss die Ernährung ausgeglichen und regelmässig sein, und das Kind sollte sich ausreichend körperlich bewegen. Und schliesslich sollte innerhalb der Familie eine Kommunikations- und Konfliktkultur gepflegt werden, die es erlaubt, über Probleme zu sprechen. Dann braucht es das Essen nicht mehr, um zu bestrafen oder zu belohnen.

Barbara Buddeberg-Fischer ist Psychiaterin und Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Zürich und hat sich 1998 mit einer Arbeit über Störungen des Essverhaltens bei Jugendlichen habilitiert. Sie ist Autorin der Bücher «Früherkennung und Prävention von Essstörungen» und «Auf dem Weg zu einer gesundheitsfördernden Schule».

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