«Wir leben nicht, um zu essen; wir essen, um zu leben.» Diese
wohlbekannten Worte, von keinem Geringeren als Sokrates, sind heute
aktueller denn je. Denn trotz den Erkenntnissen der modernen
Ernährungslehre und Nahrungsmitteln in Hülle und Fülle stellen
chronische Leiden wie Diabetes mellitus oder die koronare
Herzerkrankung die häufigsten Krankheits- und Todesursachen dar. Diese
Leiden aber, so haben epidemiologische Studien gezeigt, stehen in
engem Zusammenhang mit dem Essen.
Pyramide und glykämischer Index
Gemäss den aktuellen Empfehlungen sollte eine ausgewogene, gesunde
Ernährung zu 55 bis 60 Prozent aus Kohlehydraten, zu 10 bis 15 Prozent
aus Eiweiss und zu maximal 30 Prozent aus Fetten bestehen. Dabei
sollte der grösste Anteil der Nahrungsmittel pflanzlichen Ursprungs -
das heisst Früchte, Gemüse, Vollkornprodukte und Hülsenfrüchte - sein,
wobei unter einer gesunden Ernährung nicht unbedingt eine vegetarische
verstanden wird. Fleisch sollte in Massen genossen werden und
idealerweise nicht mehr als 10 Prozent der gesamten Energiezufuhr
ausmachen. Empfohlen wird weiter, gesättigte Fette durch einfach
ungesättigte Fette (vgl. «Mittelmeerdiät») zu ersetzen und die Zufuhr
an Cholesterin möglichst gering zu halten. Alkohol ist - in moderaten
Mengen - erlaubt, wobei ein täglicher Konsum vermieden und die
Einnahme - wenn immer möglich - an eine Mahlzeit gekoppelt sein
sollte.
All diesen Ratschlägen gerecht wird, wer sich an die aktuellen
Empfehlungen der «Nahrungsmittel-Pyramide» hält (vgl. Abbildung).
Flüssigkeiten beziehungsweise Wasser stellen die «Basis» der Pyramide
dar - der Konsum energieverminderter Getränke ist «à discrétion»
erlaubt. Auf der nächsten Stufe stehen Früchte und Gemüse, gefolgt von
Getreideprodukten und Kartoffeln. Dann - im sich verjüngenden Bereich
- werden Milch und Milchprodukte, Fleisch, Fisch sowie Eier
aufgeführt. Die Pyramidenspitze schliesslich bilden Fette, Öle und
Süssigkeiten. Die Konsummenge und die -häufigkeit sollten von der
Basis zur Spitze hin abnehmen.
Mit der Pyramide lassen sich Ernährungsempfehlungen anschaulich
vermitteln. Neue Erkenntnisse zeigen jedoch, dass auch dieses Konzept
durchaus seine Tücken hat. Damit wird die Pyramide in ihrer aktuellen
Zusammensetzung, kaum breit propagiert, schon wieder in Frage
gestellt. Trotz dem grossen Wissen ist nämlich auch unter Experten
nach wie vor umstritten, wie sich gesunde Personen idealerweise
ernähren sollen. Unter anderem werden die optimalen Mengenverhältnisse
und die Art der einzelnen Nahrungskomponenten - der Fette,
Kohlenhydrate und Eiweisse - zunehmend kontrovers diskutiert. - Dass
Fett nicht gleich Fett ist, hat man schon vor einer ganzen Weile
erkannt. Aber auch Kohlehydrate werden seit einiger Zeit in
verschiedene Gruppen eingeteilt, und zwar nach ihrer Aufnahmerate,
verglichen mit reiner Glukose. Ausgedrückt wird dieser Wert mit Hilfe
des sogenannten glykämischen Indexes, kurz mit GI abgekürzt. Wird also
ein kohlehydratreiches Nahrungsmittel vom Körper rasch aufgenommen und
bewirkt damit einen starken Anstieg der Blutzucker- und
Insulinkonzentration, hat es einen «hohen glykämischen Index» - und
umgekehrt (vgl. Tabelle).
Langfristig der Gesundheit besonders zuträglich, so ist man heute der
Ansicht, ist der Konsum von Nahrungsmitteln mit vorwiegend niedrigem
GI. Auch evolutionsmedizinisch betrachtet scheint eine solche
Ernährung jener Ernährungsweise am nächsten zu kommen, die unserem
Stoffwechsel am ehesten entspricht. Nahrungsmittel mit tiefem
glykämischem Index scheinen zum Beispiel die Fettverbrennung zu
erleichtern. Gleichzeitig, so wird postuliert, dämpfen sie das
Hungergefühl. Beide Faktoren aber spielen in der Entstehung von
Übergewicht eine wichtige Rolle.
Einschränkungen
Auf Grund zahlreicher Studien hat man erkannt, dass die modernen
chronischen Leiden wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Krankheiten in
Populationen mit geringem Fett- und verhältnismässig hohem
Kohlehydratkonsum kaum vorkommen. Entsprechend wurden die Empfehlungen
der aktuellen Nahrungsmittel-Pyramide formuliert: Kohlehydrate an der
Basis, Fette und Öle an der Spitze. Dies ist jedoch nur sinnvoll, wenn
es sich um komplexe Kohlehydrate mit einem vergleichsweise niedrigen
glykämischen Index handelt. Der GI unserer modernen Ernährung
allerdings ist in der Regel hoch. Eine derartige Ernährung ist
allenfalls für körperlich sehr aktive Personen hilfreich, nicht aber
für den grössten Teil der Bevölkerung mit mehrheitlich sitzender
Tätigkeit.
Analysiert man die Nahrungsmittel der aktuell gültigen Pyramide unter
dem Gesichtspunkt des glykämischen Indexes, zeigt sich, dass gewisse
Esswaren wie beispielsweise Pizza, Cornflakes oder Wassermelonen, die
jetzt an der Basis stehen, auf Grund ihres hohen GI in Richtung
Pyramidenspitze verbannt werden sollten. Dass auch «gesunde» Produkte
wie Kürbis, Randen, Polenta und Reis einen hohen GI aufweisen,
bedeutet allerdings nicht, dass man diese Esswaren nun - wie gewisse
Ernährungspäpste suggerieren - unverzüglich vom Speisezettel verbannen
sollte. Vielmehr zeigt es, dass Nahrungsmittel weder nur nach ihrem
Kaloriengehalt, ihrem Reichtum an Vitaminen oder besonders «gesunden»
Fettsäuren noch ausschliesslich nach dem glykämischen Index ausgewählt
werden sollen. Denn dadurch läuft man Gefahr, sich einseitig zu
ernähren. Ein weiteres Problem der aktuellen Pyramide ist, dass
dadurch suggeriert wird, ein Zuviel an Fett solle durch Kohlehydrate
ersetzt werden. In Anbetracht der unterschiedlichen gesundheitlichen
Bedeutung der einfach und mehrfach ungesättigten Fettsäuren ist dies
nicht ganz so einfach. Die ideale Strategie wäre wohl tatsächlich eine
Reduktion der gesamten Fettzufuhr, ohne vollständigen Ersatz durch
Kohlehydrate. Der noch verbleibende Fettanteil sollte durch einfach
ungesättigte Fettsäuren - vorab ungehärtete Fette pflanzlichen
Ursprungs - gedeckt werden. Ist man sich dieser Einschränkungen
bewusst, so ist die Nahrungsmittel-Pyramide nach wie vor eine gute
Möglichkeit, allgemein verständlich darzustellen, wie eine gesunde
Ernährung aussehen sollte.
Essen und leben
Trotz der grossen Bedeutung fürs körperliche Wohlbefinden ist es wenig
sinnvoll, die Ernährung isoliert zu betrachten. Denn der Schlüssel zur
Erhaltung der Gesundheit liegt nicht in Diäten oder dem sturen
Befolgen von Richtlinien irgendwelcher Gremien, sondern vielmehr in
einem Lebensstil mit einer Ernährung, die dem jeweiligen Bedarf
angepasst und abwechslungsreich ist. In Kombination mit täglicher
körperlicher Aktivität gewährleistet diese «Diät» auch ein zumindest
stabiles Körpergewicht. Denn «es ist eine langweilige Krankheit, seine
Gesundheit durch eine allzu strenge Diät erhalten zu wollen», wie
schon La Rochefoucauld meinte.
Paolo M. Suter, Privatdozent für Innere Medizin an der Universität
Zürich und Leiter der Hypertonie-Sprechstunde der Medizinischen
Poliklinik des Universitätsspitals.