Neue Zürcher Zeitung Dienstag, 26. Juni 2001

Die «Gesunde» Ernährung

Wie sinnvoll sind die aktuellen Empfehlungen?

«Wir leben nicht, um zu essen; wir essen, um zu leben.» Diese wohlbekannten Worte, von keinem Geringeren als Sokrates, sind heute aktueller denn je. Denn trotz den Erkenntnissen der modernen Ernährungslehre und Nahrungsmitteln in Hülle und Fülle stellen chronische Leiden wie Diabetes mellitus oder die koronare Herzerkrankung die häufigsten Krankheits- und Todesursachen dar. Diese Leiden aber, so haben epidemiologische Studien gezeigt, stehen in engem Zusammenhang mit dem Essen.

Pyramide und glykämischer Index

Glykaemischer IndexGemäss den aktuellen Empfehlungen sollte eine ausgewogene, gesunde Ernährung zu 55 bis 60 Prozent aus Kohlehydraten, zu 10 bis 15 Prozent aus Eiweiss und zu maximal 30 Prozent aus Fetten bestehen. Dabei sollte der grösste Anteil der Nahrungsmittel pflanzlichen Ursprungs - das heisst Früchte, Gemüse, Vollkornprodukte und Hülsenfrüchte - sein, wobei unter einer gesunden Ernährung nicht unbedingt eine vegetarische verstanden wird. Fleisch sollte in Massen genossen werden und idealerweise nicht mehr als 10 Prozent der gesamten Energiezufuhr ausmachen. Empfohlen wird weiter, gesättigte Fette durch einfach ungesättigte Fette (vgl. «Mittelmeerdiät») zu ersetzen und die Zufuhr an Cholesterin möglichst gering zu halten. Alkohol ist - in moderaten Mengen - erlaubt, wobei ein täglicher Konsum vermieden und die Einnahme - wenn immer möglich - an eine Mahlzeit gekoppelt sein sollte.

All diesen Ratschlägen gerecht wird, wer sich an die aktuellen Empfehlungen der «Nahrungsmittel-Pyramide» hält (vgl. Abbildung). Flüssigkeiten beziehungsweise Wasser stellen die «Basis» der Pyramide dar - der Konsum energieverminderter Getränke ist «à discrétion» erlaubt. Auf der nächsten Stufe stehen Früchte und Gemüse, gefolgt von Getreideprodukten und Kartoffeln. Dann - im sich verjüngenden Bereich - werden Milch und Milchprodukte, Fleisch, Fisch sowie Eier aufgeführt. Die Pyramidenspitze schliesslich bilden Fette, Öle und Süssigkeiten. Die Konsummenge und die -häufigkeit sollten von der Basis zur Spitze hin abnehmen.

Mit der Pyramide lassen sich Ernährungsempfehlungen anschaulich vermitteln. Neue Erkenntnisse zeigen jedoch, dass auch dieses Konzept durchaus seine Tücken hat. Damit wird die Pyramide in ihrer aktuellen Zusammensetzung, kaum breit propagiert, schon wieder in Frage gestellt. Trotz dem grossen Wissen ist nämlich auch unter Experten nach wie vor umstritten, wie sich gesunde Personen idealerweise ernähren sollen. Unter anderem werden die optimalen Mengenverhältnisse und die Art der einzelnen Nahrungskomponenten - der Fette, Kohlenhydrate und Eiweisse - zunehmend kontrovers diskutiert. - Dass Fett nicht gleich Fett ist, hat man schon vor einer ganzen Weile erkannt. Aber auch Kohlehydrate werden seit einiger Zeit in verschiedene Gruppen eingeteilt, und zwar nach ihrer Aufnahmerate, verglichen mit reiner Glukose. Ausgedrückt wird dieser Wert mit Hilfe des sogenannten glykämischen Indexes, kurz mit GI abgekürzt. Wird also ein kohlehydratreiches Nahrungsmittel vom Körper rasch aufgenommen und bewirkt damit einen starken Anstieg der Blutzucker- und Insulinkonzentration, hat es einen «hohen glykämischen Index» - und umgekehrt (vgl. Tabelle).

Langfristig der Gesundheit besonders zuträglich, so ist man heute der Ansicht, ist der Konsum von Nahrungsmitteln mit vorwiegend niedrigem GI. Auch evolutionsmedizinisch betrachtet scheint eine solche Ernährung jener Ernährungsweise am nächsten zu kommen, die unserem Stoffwechsel am ehesten entspricht. Nahrungsmittel mit tiefem glykämischem Index scheinen zum Beispiel die Fettverbrennung zu erleichtern. Gleichzeitig, so wird postuliert, dämpfen sie das Hungergefühl. Beide Faktoren aber spielen in der Entstehung von Übergewicht eine wichtige Rolle.

Einschränkungen

Auf Grund zahlreicher Studien hat man erkannt, dass die modernen chronischen Leiden wie zum Beispiel Herz-Kreislauf-Krankheiten in Populationen mit geringem Fett- und verhältnismässig hohem Kohlehydratkonsum kaum vorkommen. Entsprechend wurden die Empfehlungen der aktuellen Nahrungsmittel-Pyramide formuliert: Kohlehydrate an der Basis, Fette und Öle an der Spitze. Dies ist jedoch nur sinnvoll, wenn es sich um komplexe Kohlehydrate mit einem vergleichsweise niedrigen glykämischen Index handelt. Der GI unserer modernen Ernährung allerdings ist in der Regel hoch. Eine derartige Ernährung ist allenfalls für körperlich sehr aktive Personen hilfreich, nicht aber für den grössten Teil der Bevölkerung mit mehrheitlich sitzender Tätigkeit.

Analysiert man die Nahrungsmittel der aktuell gültigen Pyramide unter dem Gesichtspunkt des glykämischen Indexes, zeigt sich, dass gewisse Esswaren wie beispielsweise Pizza, Cornflakes oder Wassermelonen, die jetzt an der Basis stehen, auf Grund ihres hohen GI in Richtung Pyramidenspitze verbannt werden sollten. Dass auch «gesunde» Produkte wie Kürbis, Randen, Polenta und Reis einen hohen GI aufweisen, bedeutet allerdings nicht, dass man diese Esswaren nun - wie gewisse Ernährungspäpste suggerieren - unverzüglich vom Speisezettel verbannen sollte. Vielmehr zeigt es, dass Nahrungsmittel weder nur nach ihrem Kaloriengehalt, ihrem Reichtum an Vitaminen oder besonders «gesunden» Fettsäuren noch ausschliesslich nach dem glykämischen Index ausgewählt werden sollen. Denn dadurch läuft man Gefahr, sich einseitig zu ernähren. Ein weiteres Problem der aktuellen Pyramide ist, dass dadurch suggeriert wird, ein Zuviel an Fett solle durch Kohlehydrate ersetzt werden. In Anbetracht der unterschiedlichen gesundheitlichen Bedeutung der einfach und mehrfach ungesättigten Fettsäuren ist dies nicht ganz so einfach. Die ideale Strategie wäre wohl tatsächlich eine Reduktion der gesamten Fettzufuhr, ohne vollständigen Ersatz durch Kohlehydrate. Der noch verbleibende Fettanteil sollte durch einfach ungesättigte Fettsäuren - vorab ungehärtete Fette pflanzlichen Ursprungs - gedeckt werden. Ist man sich dieser Einschränkungen bewusst, so ist die Nahrungsmittel-Pyramide nach wie vor eine gute Möglichkeit, allgemein verständlich darzustellen, wie eine gesunde Ernährung aussehen sollte.

Essen und leben

Trotz der grossen Bedeutung fürs körperliche Wohlbefinden ist es wenig sinnvoll, die Ernährung isoliert zu betrachten. Denn der Schlüssel zur Erhaltung der Gesundheit liegt nicht in Diäten oder dem sturen Befolgen von Richtlinien irgendwelcher Gremien, sondern vielmehr in einem Lebensstil mit einer Ernährung, die dem jeweiligen Bedarf angepasst und abwechslungsreich ist. In Kombination mit täglicher körperlicher Aktivität gewährleistet diese «Diät» auch ein zumindest stabiles Körpergewicht. Denn «es ist eine langweilige Krankheit, seine Gesundheit durch eine allzu strenge Diät erhalten zu wollen», wie schon La Rochefoucauld meinte.

Paolo M. Suter, Privatdozent für Innere Medizin an der Universität Zürich und Leiter der Hypertonie-Sprechstunde der Medizinischen Poliklinik des Universitätsspitals.

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